Auf Tod und Leben

In Sizilien steht der Tod mitten im Leben. Um das festzustellen, muss man nicht unbedingt in die Kapuzinerkatakomben von Palermo hinabsteigen. Als wäre der römisch-antike Ahnenkult noch lebendig, geben sizilianische Familien den Bildern ihrer verstorbenen Angehörigen zu Hause, schön gerahmt und mit Blumen reich geschmückt, den besten Platz. Mit gebotener Zurückhaltung besucht, offenbaren sich die Totenstädte als prachtvolles Abbild der Welt jenseits der Friedhofsmauern. Palermo, Palazzolo Acreide oder Caltagirone rühmen sich der schönsten "cimiteri". Alle Architekturstile der Insel treffen im Miniaturformat zusammen: arabische Kuppelbauten, himmelhochstürmende gotische Kapellen, barocke Opulenz und futuristische Mausoleen aus Beton und Aluminium.

In den letzten Oktobertagen tauchen in den Städten Marktstände auf. Spielzeug wird in erster Linie verkauft, die Blumenhändler halten eine unübersehbare Fülle von Chrysanthemen bereit, und aus den Bäckereien duftet es süß und würzig. Eines der großen Feste des Jahres steht vor der Haustür, für die sizilianischen Kinder noch wichtiger als Weihnachten. Am Tag nach Allerheiligen wird „I Morti“ gefeiert. Die Kinder sind in der Nacht von den Verstorbenen beschenkt worden, und tagsüber geht die ganze Familie auf den Friedhof, um sich mit ihren Toten zu unterhalten. „Ossa dei morti“ versüßen die Erinnerung, die "Totenknochen" sind das traditionelle Gebäck dieser Tage.

Die Kulte antiker Unterweltsgötter und barockes Memento mori finden während der Osterzeit zu ihrem Höhepunkt. In der Karwoche durchziehen Prozessionen viele Städte Siziliens, und der tote Christus wird im Trauerzug durch die nächtlichen Straßen getragen, begleitet vom Jammern der Frauen und Blechbläser. Ein paar Tage lang feiert der Tod seinen größten Triumph, bis ihn am Ostersonntag das Leben besiegt.